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Dr. Daniel Dettling

12. Juli 2021

„Der Pflegeroboter ist bestenfalls eine Zukunftsvision“

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Interview Prof. Kreidenweis
Die Corona-Pandemie hat die fehlende Digitalisierung der Pflege schonungslos offengelegt. Der Digitalverband FINSOZ e.V. will mit der „Initiative Pflegedigitalisierung“ eine Plattform für Hersteller und Anbieter, soziale Organisationen und Wissenschaft aufbauen und Lösungsanbieter und Einrichtungen zusammenbringen. 

Ein Gespräch mit dem Vorstand Prof. Helmut Kreidenweis, der zu den profiliertesten Sozialinformatikern gehört und an der Katholischen Universität Eichstätt lehrt, über den Nutzen von IT und KI in der Pflege und die Ziele einer nationalen Strategie.
Pflege und Digitalisierung sind für viele zwei getrennte Welten. Digitale Gesundheit und Medizin dagegen sind weit bekannter. Warum?
Pflege wird als menschliche Dienstleistung von Menschen an Menschen wahrgenommen. Pflege bedeutet immer auch menschliche Zuwendung. Digitalisierung ist für viele ein Begriff, der aus der kalten Welt der Informatik kommt. Dabei arbeitet Pflege schon seit langem mit digitalen Hilfsmitteln wie beispielsweise IT-gestützte Pflegedokumentation. Jede Pflegekraft verwendet heute E-Mail und Internet. Nun gilt es, digitale Hilfsmittel intelligent und reflektiert in die Kernprozesse der Pflege zu integrieren und alle Beteiligten dabei mitzunehmen.
Zum Beschleuniger der Digitalisierung wurde die Corona-Pandemie. Gilt das auch für die Pflege?
Corona hat die Lücken der Digitalisierung in der Pflege schonungslos aufgedeckt. Viele Einrichtungen haben kein WLAN, so dass die Kommunikation zwischen Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen etwa über Tablets teils nicht möglich war. Es fehlt auch an der IT-Kompetenz der Pflegekräfte. Digitale Werkzeuge können interne Prozesse verbessern und transparenter machen und das Infektionsrisiko verringern. Wir hätten die Folgen der massiven Kontaktbeschränkungen und der damit verbundenen menschlichen Tragödien mit mehr Digitalisierung zumindest abmildern können. Teilweise ist das auch geschehen, aber eben längst nicht flächendeckend.

Wo konkret kann IT und Digitalisierung Pflegekräfte unterstützen, kommen die Pflegeroboter?

Der Pflegeroboter ist derzeit noch eine Zukunftsvision. Auf absehbare Zeit wird es keine humanoiden Roboter oder Systeme geben, die auch nur annähernd Anwendungsreife erreichen, um umfassend das zu tun, was wir Pflege nennen. Fachkräfte verbringen heute etwa ein Drittel ihrer Arbeitszeit mit Bürokratie. Und wir sprechen von Fachkräftemangel! Dabei können wir Pflegekräfte enorm entlasten durch mobile und sprachgestützte Dokumentation sowie bei der Dienst- und Einsatzplanung auf dem Smartphone. Künstliche Intelligenz kann Personal mit Migrationshintergrund sprachlich unterstützen. Digitalisierung kann helfen, wenn es um die Verbesserung der Kommunikation mit pflegenden Angehörigen oder zwischen Fachkräften, Ärzten und Apotheken geht. Die Pflege gehört jetzt mit dem DVPMG zur Telematikinfrastruktur. Ab 2024 wird die Anbindung verpflichtend. Die meisten Einrichtungen sind hierauf noch nicht vorbereitet. Wenn die Medikation beispielsweise nicht voll digital verwaltet wird, kann auch kein e-Rezept vernünftig verarbeitet werden. Da ist also noch viel Basisarbeit zu leisten. Das ist für die Politikprominenz freilich weniger „sexy“, als sich mit einem Roboter im Altenheim fotografieren zu lassen.

Wie steht es um die Interoperabilität der Systeme?

Die IT-Landschaft im Gesundheitswesen ist sehr medizinorientiert. Die Gefahr besteht, dass der Pflege medizinische Standards übergestülpt werden, die der Pflege nicht entsprechen. Was etwa dringend erforderlich ist, ist eine Interoperabilität zwischen Fachsoftwaresystemen und Assistenztechnologien. Wenn beispielsweise ein Sturz technisch festgestellt wird, muss dieser automatisiert in der Pflegedokumentation übernommen werden können. Hierfür fehlen praktikable Standards. Andererseits sind zu starre Vorgaben der Tod jeder Innovation. Die Lösungsanbieter müssen eng in die Entwicklung solcher Standards eingebunden werden.

Wie steht es um die Potenziale bei Personalbedarfsermittlung und -planung?

Die Bedarfe lassen sich mit einer integrierten Software bereits heute sehr gut planen und steuern. Viele Einrichtungen verwenden jedoch noch immer getrennte Systeme, die vieles nicht erlauben. Es fehlt oft das Bewusstsein, was moderne IT-Systeme heute leisten können. Pflegeinformatik ist in den USA etwa längst ein akademisches Fach.

Digitalisierung wie Werkzeuge und Angebote zur Entlastung der Pflegekräfte kosten viel Geld.

Wir brauchen nicht nur eine Anschubfinanzierung. Ziel sind eine Dauerfinanzierung und einheitliche Vorgaben durch den Bund. Digitalisierung braucht Skaleneffekte. Wenn jedes Bundesland eigene Vorschriften macht, lohnt sich Digitalisierung aufgrund der Kleinteiligkeit kaum noch. Die Digitalisierung der Einrichtungen muss auch stärker Berücksichtigung bei den Leistungsentgelten finden. Die Leistungsträger müssen gesetzlich verpflichtet werden, diese Finanzierung sicherzustellen. Nur so wird eine wirksame und nachhaltige Entlastung der Pflege möglich.

Wann kommen die Pflege-Apps?

Neben den digitalen Gesundheitsanwendungen, den sogenannten DiGAs, gibt es demnächst digitale Pflegeanwendungen, die DiPAs. Diese Apps nutzen vor allem den Angehörigen und Pflegebedürftigen. Das ist gut und richtig, doch wir brauchen auch Anwendungen für die Pflegekräfte.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft von der Politik?

Statt unkoordinierter Einzelmaßnahmen eine umfassende Strategie für die digitale Pflege: Dazu gehören die technische Infrastruktur, ausreichende Finanzierung, Aus- und Weiterbildung und Entwicklungskooperationen. Deutschland braucht als das mit am schnellsten alternde Land ein interdisziplinäres Kompetenzzentrum Digitale Pflege, in das auch die Pflegekräfte als Anwender, die Digitalverbände der Branche und die Anbieter der IT-Systeme eingebunden sind.

Haben Sie eine Vision für die nächsten 10 Jahre, wo stehen wir im Jahr 2030?

Pflege wird papierlos! Und zwar komplett. Sowohl im Hinblick auf die internen Prozesse in den Einrichtungen, die mit mobiler und benutzerfreundlicher IT ausgestattet sind, als auch zwischen den Leistungserbringern und in der Kommunikation mit den Leistungsträgern. Pflegekräfte sind digitaltechnologisch fit und können zwischen nützlichen und nutzlosen Anwendungen unterscheiden. Digitale Innovationen werden nah an der Pflege entwickelt. Pflege braucht in den nächsten Jahren vor allem digitale Unterstützung bei den Basics und nicht primär Roboter aus teuren Forschungsprojekten, die nach drei Jahren Projektlaufzeit in der Mülltonne landen.

Herr Prof. Kreidenweis, vielen Dank für diesen spannenden Einblick!

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