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Dr. Daniel Dettling

14. Dezember 2021

Die Zukunft der Pflege und Gesundheit

Die neue Präsidentin des Deutschen Pflegerates (DPR) bringt frischen Wind in die Debatte über die Zukunft der Pflege und Gesundheit. Im Gespräch begründet die seit mehr als 30 Jahren ununterbrochen im Berufsfeld Pflege und Gesundheit tätige Christine Vogler, wann düstere Zukunftsszenarien angebracht sind, was dies mit ihrem aktuellen Optimismus zu tun hat, wo die neue Ampel-Koalition im Bereich der Digitalisierung noch nachbessern muss und welche Vision sie für das Jahr 2033 hat.

Christine Vogler

»Die Patientenbedürftigkeit muss bei der Messung des Personalbedarfs an erster Stelle stehen!«

Christine Vogler, Präsidentin des Deutschen Pflegerates (DPR)
Auf dem deutschen Pflegetag im Oktober haben Sie ein düsteres Zukunftsszenario beschrieben: Im Jahr 2033 gibt es keine ambulante Pflege mehr, dafür Heime, in denen die Pflegebedürftigen in Massen versorgt werden. Für Menschen ab 80 bzw. mit schlechten Prognosen gibt es eine „Beendigungsbehörde“ für den „Lebensabschluss“. Wer es sich leisten kann, lebt in sog. „Lebensabendhäusern“, wo Pflegende zu guten Bedingungen arbeiten. Braucht es solche Dystopien, damit sich etwas im Lande bewegt?
Leider ja. Wir müssen den Menschen deutlich sagen, in welche Situation wir hineinschlittern, wenn sich nichts ändert. In wenigen Jahren gehen die Baby-Boomer in Massen in Rente, viele von ihnen werden pflegebedürftig. Wir müssen heute ein Bewusstsein für Versorgung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe schaffen. Ohne eine neue Gesundheits- und Pflegeversorgungsstruktur können wir die Herausforderung einer älter werdenden Gesellschaft nicht bewältigen. Wir brauchen eine Gesellschaft, die sich um sich selbst kümmert und sich um den Nachbarn sorgt. Und wir brauchen ein Pflege- und Gesundheitssystem, das einen stärkeren Fokus auf die Themen Gesundheitsvorsorge und Gesundheitskompetenz legt. Wir müssen versuchen, Pflegebedürftigkeit möglichst frühzeitig zu verhindern.
Wurde Ihr Ruf erhört?
Wir waren von dem positiven Echo auf den Pflegetag im Oktober überrascht. Das hängt sicher auch an der Pandemie, die für das Thema Pflege ein positiver Booster ist. Im Koalitionsvertrag der Ampel sind wir endlich angekommen, etliche unserer Forderungen wurden aufgenommen. Wir sind optimistisch, dass sich die Dinge positiv verändern im Vergleich zu früheren Legislaturperioden.
Pflege
Bis 2030 werden 6 Millionen Pflegebedürftige erwartet. Wo sollen die rund 500.000 Pflegefachkräfte herkommen, die dann fehlen?
Die Wahrheit ist: Wir werden nicht so viele Pflegefachpersonen bekommen. Es geht um Stellschrauben und Antworten auf die Frage: Wie können wir in Zukunft Pflegebedürftige versorgen? Wir müssen neu denken. Es geht erstens um gesellschaftliche Zuwendung. Nachbarschaft muss wieder eine Wertigkeit haben, egal ob in der Großstadt oder auf dem Land. Zweitens brauchen wir im Rahmen der Digitalisierung größtmögliche Unterstützung bei den Themen Bürokratieabbau und technologischen Systemen wie etwa bei der Telepflege und der Information von Angehörigen. Drittens braucht es neue Kompetenzzuschnitte für Pflegefachpersonen und Berufe. Unser System ist zu arztzentriert. Pflegekräfte und Therapeuten müssen mehr dürfen und autonomer handeln können. Und viertens müssen wir die Bürger:innen stärker beteiligen und mitbestimmen lassen.
Zum Thema Digitale Pflege schweigt der Koalitionsvertrag.
Bei der im Vertrag genannten „Digitalisierungsoffensive“ sind wir hoffentlich mitgemeint. Ohne den Gesundheits- und Pflegebereich wird es nicht gehen. Der Blick auf die Pflege ist noch zu dünn. Ein Pflegeheim mit 40 Bewohnern hat im schlimmsten Fall 40 verschiedene Hausärzte mit unterschiedlichen Abrechnungssystemen. Die Bürokratie ist unvorstellbar! Wir brauchen einen nationalen Strategieplan „Digitalisierung in der Pflege“ und ein unterstützendes Kompetenzzentrum aus der Perspektive pflegerischer Versorgung.
Wo genau können IT und Digitalisierung Pflegekräfte und –einrichtungen unterstützen und entlasten?
Es geht vor allem um die Bereiche Dokumentation und Interoperabilität. Die Systeme müssen untereinander und sektorenübergreifend funktionieren. Wir brauchen die konsequente Umsetzung der Patientenakte, die mit den Menschen mitgeht und in seiner Hand und Verantwortung bleibt. Die Pflegenden können wir enorm entlasten, etwa durch unterstützende Technologien beim Heben und Tragen und durch Warn- und Kontaktsysteme.

»Technisierung und Robotik ist noch Zukunftsmusik, die Diskussion müssen wir aber heute schon führen.«

Gilt dies auch für die Planung und Messung der Personalausstattung und -bemessung?

Pflegepersonalbedarfsbemessung ist ein großes Thema für uns. Digitalisierung können wir hier zu 100 Prozent nutzen. Wir müssen dabei die Berufs- und Patientenzufriedenheit in eine Balance bringen. Die Patientenbedürftigkeit muss bei Personalbedarf und –messung an erster Stelle stehen.

Der Anteil der ambulanten Pflege und der Menschen, die von zu Hause durch ihre Angehörigen versorgt werden, ist in der Pandemie gestiegen. Ist dies ein anhaltender Trend, wie wird sich das Verhältnis von ambulanter und stationärer Pflege entwickeln?

Der Trend wird sich fortsetzen. Das grundlegende Prinzip ist „Ambulant vor stationär“. Solange es geht, müssen wir die Menschen in der häuslichen Pflege versorgen, auch weil die ambulante Versorgung die kostengünstigste Form ist. Zur Versorgung gehört, dass die Menschen zu Hause nicht vereinsamen.  Es geht um die Sicherung der sozialen Teilhabe.


Fast alle von uns wünschen sich möglichst bis zum Tod ein Leben in den eigenen vier Wänden. Ins Heim wollen die wenigsten. Braucht es hier nicht ein Umdenken, neue Konzepte oder gar ein Recht auf Pflege zu Hause?

Ein „Recht auf Pflege zu Hause“ ist eine gute Aussage. Das jetzige System ist nicht zukunftstauglich. Es braucht eine Reihe von neuen Ansätzen und Instrumenten. Wir brauchen alle Akteure und Generationen. Ich bin ein Fan eines sozialen Jahrs für alle jungen Männer und Frauen in allen Bereichen, von der Erziehung, Bildung, Umwelt bis hin zur Gesundheit und Pflege.  

Wegweiser Berge
Wie ist Ihre Vision der Pflege im Jahr 2033, wo stehen wir dann?

Die Demokratie ist in dieser aktuellen pandemischen Krise in einen fragilen Zustand geraten. Ich bin optimistisch, dass wir die Herausforderung schaffen können. Die Pflege kann einen entscheidenden Beitrag leisten, das System Gesundheit neu zu denken: Weg von den Verwaltungs- und Kassenstrukturen hin zum Bürger. Gesundheit geht nur mit allen 84 Millionen Menschen in diesem Land. 

»Meine Vision: 2033 haben wir souveräne Berufe und Teams, in den Kommunen gibt es Versorgungszentren und die Digitalisierung leistet einen entscheidenden Beitrag zur gesundheitlichen Absicherung und Pflege der Menschen.«

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