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Dr. Daniel Dettling

1. Oktober 2021

Digitalisierung in der Pflege

Das Deutsche Herzzentrum Berlin (DHZB) ist auf dem Sprung an die europäische Spitze. Als Teil der Charité soll in wenigen Jahren das modernste Herzzentrum Europas entstehen. Am Zentrum betreuen heute über 500 Pflegekräfte Patient:innen aller Altersgruppen. Pflegedirektor Sebastian Dienst und sein Stellvertreter Darije Lazovic setzen seit Jahren auf die Chancen der Digitalisierung und haben eine gemeinsame Vision für den Pflegeberuf der Zukunft.

Sebastian Dienst

Sebastian Dienst
Pflegedirektor
Deutsches Herzzentrum Berlin (DHZB)

Darije Lazovic
stellv. Pflegedirektor
Deutsches Herzzentrum Berlin (DHZB)

Welche Schulnote würden Sie sich und der Pflege des Deutschen Herzzentrums Berlin für das Krisenmanagement während Corona geben?
Eine Eins. Aber nicht für uns, das sollen andere bewerten, sondern für die Mitarbeiter:innen. Corona war und ist für uns eine extrem anstrengende Zeit, wir haben nochmal eine Schippe oben draufgelegt. Wir haben uns nach Ausbruch der Pandemie täglich in Online-Meetings getroffen, um uns auf dem Laufenden zu halten. Anfangs überwog die Skepsis, ob wir das mit den  Stationsleitungen hinbekommen. Es hat super funktioniert, die Kommunikation ist jetzt auf allen Ebenen viel intensiver und besser. Das, was früher nicht möglich schien, ist jetzt selbstverständlich im Alltag.

»Der Zusammenhalt ist in der Corona-Zeit noch enger geworden, die Krise hat uns gestärkt – digital wie analog.«

Die öffentliche Wertschätzung für den Pflegeberuf ist in der Corona-Pandemie gestiegen. Braucht es Krisen wie diese?
Die Wertschätzung war auch vorher groß. Mit Corona wurde jedoch stärker über Pflege berichtet und diskutiert. Wir Pflegenden haben einen tollen Beruf. Die Rahmenbedingungen haben das Image erheblich verschlechtert. Wir müssen nicht auf Politik und Gewerkschaften warten, sondern können die Bedingungen vor Ort ändern und mitbestimmen.
Ist das Interesse am Pflegeberuf am Herzzentrum durch Corona gestiegen?
Wir konnten schon vor Corona die Bewerbungen aktiv nach oben treiben. Seit 2019, als wir den absoluten Tiefpunkt der pflegerischen Besetzung hatten, gelingt es uns, die Personalzahlen kontinuierlich zu steigern.
Haben Sie Angst vor einem „Pflexit“, einer Kündigungswelle von Fachkräften, vor der aktuell gewarnt wird?
Nein, wir haben Angst vor der sicheren Renteneintrittswelle, da wir diese nicht ändern können. Daher arbeiten wir so hart, um dieses Szenario abzuwenden. Auch indem wir eine ehrliche Analyse in Deutschland ansprechen. Kaum jemand weiß, dass laut OECD wir in Deutschland – gemessen an der Einwohnerzahl – genauso viele aktive Pflegende wie unsere europäischen Nachbarn haben. Einen erheblichen Mangel haben wir dagegen beim Verhältnis Pflegekraft pro Patient:in. Wir haben also ganz offensichtlich mehr Patient:innen als andere, weil wir zu viel stationär machen und es an Prozessen und Tools der digitalen Unterstützung mangelt.
Dann ist das Gerede vom Pflexit mediale Überzeichnung?
Es wird in 10 bis 15 Jahren einen demografisch bedingten „Pflexit“ geben, weil die älteren Mitarbeiter:innen in Rente gehen. Dafür brauchen wir politische, das heißt planerische Lösungen, wie wir die Anzahl der unnötig stationären Patient:innen reduzieren können. Wir sehen aber einen anderen selbstverschuldeten „Pflexit“: den der Ausbeutung und der schlechten Führung. Dieser Pflexit lässt sich aber verhindern. Wer Schuld hat, hat auch die Macht zur Veränderung
Worauf kommt es dabei vor allem an?

Führung, Führung, Führung. Das fängt mit einer strategischen Personalplanung und der Frage an: Was können wir überhaupt an Diensten leisten? Ein zweiter Faktor ist ehrliche Kommunikation: Wir haben unseren Mitarbeiter:innen klar gesagt, wo wir stehen und dennoch mit ihnen hohe Standards verabredet. Der dritte Faktor ist Transparenz. Anhand unserer Dashboards können alle in Echtzeit sehen, wo wir bei Themen wie Krankenquote stehen – und zwar auf Jahre gerechnet. Das Ergebnis: Statt Kündigungen erleben wir mehr Bewerbungen.

Kommen politische Maßnahmen, wie die Verbesserung von familienfreundlichen Arbeitszeiten oder die Konzertierte Aktion Pflege, bei Ihnen an?

Die politischen Rahmenbedingungen sind besser geworden. Die jahrelange Unterfinanzierung der Pflegetarife und der damit verbundene Personalverlust sind jetzt gestoppt. Wir bekommen heute jede Pflegestelle finanziert. Attraktive Arbeitszeitmodelle und bessere Rahmenbedingungen sind dann unser Job. Oft sind es kleine Gesten, die viel bringen.


Was braucht ein modernes Krankenhaus?

Eine ehrliche Analyse und Bestandsaufnahme und ein besseres Management. Wir wissen aus den Gesprächen: Junge Menschen wollen mit Menschen und in Teams arbeiten, sie wollen sozial sinnvolle Jobs haben, sich weiterentwickeln können und mit Technik zu tun haben.

»Das Krankenhaus gehört zu den schönsten Orten, an denen Menschen arbeiten können.«

Welchen Trend beobachten Sie bei den Kliniken?
Es wird zu einer Spreizung kommen. Es gibt Top-Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen in Deutschland, die weiter profitieren werden. Und es gibt Häuser, die noch nicht einmal einen elektronischen Dienstplan haben und vom Markt verschwinden werden. Wir verschleißen Arbeitskräfte in einem schlecht organisierten System und haben zu viele Krankenhäuser, weil es an digitaler Infrastruktur fehlt.

»Digital befinden sich viele Kliniken in der Steinzeit.«

Wir brauchen vor dem demografischen Höhepunkt die digitale Wende, den Zwang zur Digitalisierung. Das KHZG enthält zu Recht Strafzahlungen, wenn die Kliniken nicht digitalisieren.


Welche Rolle spielt Digitalisierung in Ihrem Bereich?

Digitalisierung ist mehr als nur Computer und digitale Unterstützung. Wir wollen aus Routinedaten eine risikoadjustierte Personalbedarfsermittlung in Echtzeit machen und daraus Handlungen ableiten. Es geht dann nicht nur um die Anzahl der Betten, sondern auch um die Bedarfe der Patient:innen und ihre beste Betreuung, die vernetzte bstimmung zwischen den Berufsgruppen und um Planungen im Voraus und Prozessbeschleunigung. Digitale Schulungen und Lernprogramme sparen Geld und Zeit. Wir müssen mehr von anderen Branchen lernen.


Die Öffentlichkeit tut sich noch schwer mit dem Thema „Digitale Pflege“. Wo sehen Sie Grenzen?

Die rote Linie ist die digitale Überwachung von Patient:innen, um daraus ethische Entscheidungen oder Rationierungen zu diskutieren. Wir brauchen aber keine Angst vor Künstlicher Intelligenz zu haben, die uns Menschen ersetzt. Pflege und Medizin sind eine Kunst. Digitalisierung kann helfen, Fehler zu vermeiden und uns helfen, das Leben einfacher zu machen, sie kann uns die Entscheidung aber nicht abnehmen. Digitale Pflege ermöglicht in Zukunft, dass schwer chronisch kranke Menschen möglichst lange zuhause bleiben können. Mit Hilfe von Digitalisierung und Medizintechnik, wie z. B. auch Exoskeletten, werden Ältere mit muskulären Problemen sich besser bewegen und laufen können.


Dann kommt der Pflegeroboter?

Wir brauchen dringend einen intelligenten Pflegeroboter als medizinisches Haustier. Ich nenne ihn den „Roboterhund“. Er wird mit Augensensoren Assistenzleistungen übernehmen, Werte wie Zucker messen und die Ergebnisse dann digital dem Pflegeteam schicken, das dann gezielt Hilfe leistet, ob telefonisch oder vor Ort.

»Der Roboter wird den Menschen aber nicht waschen, weil Waschen Therapie ist, die Empathie und Intuition erfordert. Dafür braucht es uns.«

Wie wird sich der Pflegeberuf damit verändern?

Der Beruf wird professioneller und digitaler. Weiterbildung und Studiengänge wie Pflegeinformatik führen zu mehr Durchlässigkeit zwischen den Berufen. Die Grenzen zwischen den Professionen, zwischen Arzt und Pflegeberufen, werden flüssiger. In Zukunft arbeiten wir auf Augenhöhe. Die dreijährige Pflegeausbildung wird zur Grundausbildung, auf die Bachelor und Master folgen werden.


Braucht moderne Pflege neue Berufsbezeichnungen?

Ja, eindeutig. Länder wie die USA sind uns bei den Begriffen voraus. Moderne Titel und Bezeichnungen machen Berufe und Karrieren.


Wer Visionen sucht, muss nicht zum Arzt gehen. Wo steht der Pflegeberuf 2025 oder 2030?

2030 sind wir eines der modernsten Herzzentren in Europa und werden zu den digitalen Vorreitern gehören. Die Tätigkeit der Pflegenden wird weiter, der Beruf attraktiver. Es kommt zu einer Neuordnung aller medizinischen Berufsgruppen: Die Pflegenden werden die Steuerungsfunktion übernehmen und auf  Augenhöhe mit den Ärzt:innen agieren. Telemedizin wird zum Standard. Wir werden digitale Brillen tragen und dennoch den Menschen sehen. Mit unserer pflegerischen Intuition und unserem Erfahrungswissen können wir auch in Zukunft etwas, das Maschinen nicht können: echte Beziehungsarbeit leisten.

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