Prof. Dr. Andreas Beivers
Die Ambulantisierung stationärer Leistungen ist eines der aktuellen Megathemen – vor, während und vor allem nach der Pandemie. Seit mehreren Jahren zeigen die Vergleiche mit europäischen Nachbarländern, dass gerade in diesem Bereich enorme Potenziale für das deutsche System bestehen. Die Pandemie hat hier den Druck aus zweierlei Gründen spürbar verschärft: Zum einen stehen die Kostenträger vor dramatischen Finanzierungsengpässen, weshalb unter anderem die Politik nun dringend auf der Suche nach „schnellen“ Einsparungspotenzialen ist. Zum anderen wurden gerade im Lockdown viele vormals stationär behandelte Patient:innen – aufgrund der angeordneten Freihaltung stationärer Krankenhauskapazitäten – nun ambulant behandelt, wie auch Analysen des aktuellen WIdO-Krankenhaus-Reportes 2022 zeigen. Daher stellt sich zu Recht die Frage, ob das, was medizinisch in der Pandemie möglich war und ist, nicht auch „in einer Welt nach der Pandemie“ funktioniert.
So ist es in der Tat unbenommen längst bekannt und richtig, dass die Trennung des deutschen Gesundheitssystems in einen ambulanten und stationären Sektor wesentlich dazu beitrug und trägt, dass vorhandene Effizienzpotenziale nicht ausreichend realisiert werden können – in der Kapazitätsplanung genauso wie in der Vergütungssystematik. Um integrierte, sektorenübergreifende Versorgungsprozesse sicherzustellen, muss ein Vergütungssystem die richtigen Anreize setzen. Dabei ist die sektorenspezifische Vergütung das wohl gewichtigste Hindernis zur vollständigen Umsetzung der integrierten Versorgung.
Die Diskussion um die ambulant-sensitiven Krankenhausfälle, das MDK-Reformgesetz aus der letzten Legislaturperiode ebenso wie der in diesem Jahr publizierte, neue AOP-Katalog sind klare Anzeichen dafür. So ist der zunehmende Druck auf die Kliniken sowie auf das Gesundheitssystem als Ganzes hin zu mehr Ambulantisierung schon einige Jahre zu beobachten und wird wohl einen zentralen Part in den Lauterbach´schen Reformbemühungen spielen.
Jedoch ist eine „ambulante Behandlung“ am und im Krankenhaus ebenso wie in einer spezialisierten Facharztpraxis bzw. -zentrum medizinisch-pflegerisch oftmals viel mehr als das, was landläufig unter dem nicht näher definierten Begriff „ambulant“ vermutet wird. Auch ohne Übernachtung findet hier eine hochkomplexe Triagierung und Diagnose statt. Gerade in diesen Zeiten wird das deutlicher denn je. Daher müssen diese Aufgaben adäquat vergütet werden. Die ökonomischen Anreize der Patientenbehandlung müssen sich allein an der medizinisch-pflegerischen Leistung und nicht am Faktor „Bett“ oder „ohne Bett“ orientieren. Und sie müssen selbstverständlich den Aufwand entsprechend abdecken. Hier ist noch einiges zu tun.
Wie bereits angeklungen schleicht sich in der „Ambulantisierungsdebatte“ zumeist bei vielen Beteiligten ein elementarer Denkfehler ein: Wer definiert eigentlich die Begriffe „ambulant“ und „stationär“? Das Mantra der Ambulantisierung stationärer Leistungen geht zu wenig darauf ein, was „ambulant“ genau bedeutet. Sind es wirklich einfach nur alle Leistungen ohne Bett? Kann das diesem riesigen Leistungsportfolio sowie dem EBM (einheitlicher Bewertungsmaßstab) überhaupt gerecht werden? Wichtig wäre eine juristisch und medizinisch klare und pragmatische Abgrenzung der einzelnen Leistungen zwischen ambulant, ambulant-spezialfachärztlich, hybrid, teil- und vollstationär, um nicht „Äpfel und Birnen“ miteinander zu vergleichen – und somit erneut Fehlanreize zu setzen. Dies muss sich dann auch in den KIS-Systemen der Krankenhäuser mit einer adäquaten, digitalen Erfassung der Leistungen und Prozesse – die als Grundlage zur Abrechnung dienen – abbilden.
Sicherlich können ambulante Leistungen und Hybrid-DRGs die bis dato (vollstationär) erbrachten Leistungen substituieren und Fehlanreize im Status quo internalisieren. Eine Risikoselektion des Patientengutes muss aber unbedingt verhindert werden. Ist eine Übernachtung, beispielsweise aufgrund einer sozialen, aber nicht medizinischen Indikation heraus nötig, sollte diese beispielsweise durch eine Hotelkostenkomponente übernommen werden.
Die dargestellten Probleme der Definition und Finanzierung, sprich dem richtigen Setzen von Anreizen, um die Ambulantisierung nach vorne zu bringen, sind zentral – aber im Kern doch eher eine (gesundheits-)ökonomische Debatte: Wie setzen wir Anreize neu, damit Patient:innen ressourcenschonender behandelt werden können und eine unnötige (voll-)stationäre Behandlung vermieden werden kann? Vor allem personelle als auch finanzielle Einsparpotenziale sind dabei möglich.
Qualitätsmessung und -transparenz ambulanter Leistungen sind dabei ein weiteres, ganz zentrales Thema. Dies impliziert, dass das Entlass- und Case-Management ein zentraler Bestandteil einer derartigen Reformgesetzgebung sein muss. All dies wird und kann aber nicht gelingen, wenn die einzelnen Versorgungsbereiche nicht digital vernetzt sind und somit ein reibungsloser Datenaustausch und Datenzugriff gewährleistet werden kann. Ohne ein sektoren-übergreifendes, effizientes und zielführendes, patientenzentriertes Data-Warehouse, welches die neuen Prozesse und Informationen umfänglich abbildet, werden sich die gewünschten Effizienz-potenziale durch die Ambulantisierung nicht einstellen.
Vielmehr wird die Qualität sinken, wenn die Patientendaten im Bereich des Entlassmanagements, der Nachsorge und des Case-Managements nicht zur Verfügung stehen. Hier muss noch einiges getan werden – betrachtet man nur die immer noch schleppende Einführung der elektronischen Patientenakte.
Das IGES-Gutachten zum AOP-Katalog erwähnt dabei zu Recht die für eine ambulante Durchführbarkeit entscheidenden Kontextfaktoren, die fallindividuell geprüft werden müssen. Doch wer wird bzw. soll diese Prüfung über welches Portal durchführen? Im Status quo findet das stationäre Entlassmanagement primär durch die Sozialstationen der Kliniken statt. Diese erhalten dann aber eine neu zu definierende – und zu finanzierende – Aufgabe, um ein Case-Management auch im ambulanten Bereich zu ermöglichen. Zusätzlich steht natürlich auch die Frage im Raum, wer diese Aufgaben übernehmen kann, wenn derartige Behandlungen etwa in ambulanten Zentren (z. B. MVZs) durchgeführt werden. Deren Öffnungszeiten entsprechen zumeist nicht denen der Kliniken. Folgende Fragen sollten vorab geklärt werden: Wer stellt sicher, dass dort dergleichen Abteilungen die genannten Kontextfaktoren überprüfen können? Welche Qualifikationen und Kompetenzen brauchen die dortigen Mitarbeiter:innen? Macht es vielleicht auch Sinn, derartige „Dienstleistungen“ zu bündeln?
Gerade ältere, multimorbide Patient:innen können nach einer ambulanten Operation mit der veränderten Situation in der eigenen Häuslichkeit überfordert sein – was die Wahrscheinlichkeit einer stationären Wiedereinweisung in das Krankenhaus innerhalb kurzer Zeit erhöht. Dann wäre durch eine „schnelle Ambulantisierung“ am Ende nicht viel gewonnen. Adäquate medizinische Nachsorge hingegen könnte einer Wiedereinweisung vorbeugen. Ein parallel zur Ambulantisierung aufgesetztes, effizientes Entlass- und Homecare-Management ermöglicht die Versorgung von Patient:innen mit indikations-gerechten Produkten. Es berät, koordiniert und gibt Anleitung zur Selbsthilfe. Die digitale Vernetzung der einzelnen Versorgungssektoren ist dabei eine der Grundvoraussetzungen, damit dies gelingen kann.
Im Kern muss dabei das Entlassmanagement, das ja in den letzten Jahren zunehmend in den gesundheitspolitischen wie auch gesetzgeberischen Fokus gerückt ist, auf die neuen Bedarfe angepasst werden. So stellt unter anderem der WIdO-Krankenhaus-Report 2021 – welcher die Optimierung der Versorgungsketten beleuchtet – fest, dass die Identifikation von Patient:innen mit poststationären Versorgungsrisiken bzw. Unterstützungsbedarfen (sog. initiales Assessment) sowie eine Ermittlung und Festlegung dieser Bedarfe in Abstimmung mit Patient:innen und Angehörigen (sog. differenziertes Assessment) von zentraler Bedeutung sind. Diese Assessments gilt es neben den post-stationären nun auch um die post-ambulanten bzw. post-stationsersetzenden Versorgungsrisiken zu erweitern. Auch die ambulante Entlass-Planung muss die Information, Schulung und Beratung von Betroffenen und Angehörigen zu den Versorgungserfordernissen sowie die Abstimmung mit den intern und extern beteiligten Berufsgruppen und Einrichtungen zu den erforderlichen Maßnahmen beinhalten. Daher bedarf es einer gesetzlichen Regelung bzgl. notwendiger Strukturvorgaben für das ambulante Entlassmanagement (sog. Expertenstandards).
Vielleicht ist es wichtig, noch einmal den Aspekt der Versorgung in eher ländlichen Regionen zu beleuchten: Die Ambulantisierung von zuvor stationären Leistungen in Kliniken oder Behandlungszentren darf und soll sicherlich nicht die Zentralisierungs- und Spezialisierungsbemühungen, die ja gerade im stationären Bereich geführt werden, konterkarieren, sprich: Die Bündelung komplexer Versorgungskapazitäten aus dem Aspekt der Behandlungsqualität ebenso wie aus der effizienten Nutzung von apparativen und personellen Ressourcen sind bei der vollstationären Behandlung mit Bett genauso richtig und wichtig wie bei einer stationsersetzenden, teilstationären, hybriden oder ambulanten Behandlung.
Aber natürlich stellt diese Bündelung vor allem im ländlichen Raum bzw. bei infrastrukturell nicht so gut angebundenen Versorgungseinrichtungen gerade im Kontext der ambulanten Behandlung eine besondere logistische und versorgungspolitische Herausforderung dar. Nicht alle ambulant behandelten Patient:innen verfügen über die Möglichkeiten eines funktionierenden „Transportsystems“ hin zur Behandlung – und vor allem wieder zurück in den häuslichen Bereich. Auch ist die Frage, wie gut der häusliche Bereich an weitere (Nachsorge-) Einrichtungen angebunden ist und ob dort Unterstützungsmöglich-keiten durch Nachbarn, Angehörige oder Pflegepersonal gegeben sind.
Die soziale Indikation spielt bei älteren, multimorbiden Patient:innen schon heute beim stationären Entlassmanagements eine große Rolle – und im ambulanten, ländlichen Bereich eine noch viel größere. Aber auch junge, gesunde Patient:innen bis hin zu Kindern und Jugendlichen haben ggf. Angst vor Nachblutungen oder ein subjektives Sicherheitsbedürfnis, welches nicht medizinisch begründet, aber dennoch vorhanden ist. Damit muss ein Gesundheitssystem umgehen und dies im Kontext der Ambulantisierung mitberücksichtigen. Neben den bisher genannten, wichtigen Aspekten können auch Patientenhotels eine weitere Lösungsoption darstellen. In anderen Ländern, wie beispielsweise Schweden, die wesentlich mehr ambulant behandeln und auch viele ländliche, dünn besiedelte Regionen aufweisen, sind diese schon im Einsatz. Dort können ambulant behandelte Patient:innen, die sich nach ihrer Behandlung noch gerne eine gewisse Zeit in der Nähe des Klinikums aufhalten möchten, das Angebot eines Patientenhotels nutzen. Es ist dabei noch zu klären, wie hoch der Eigenanteil für dergleichen Übernachtungskosten ist oder ob es sich um eine reine Selbstzahler-Nachfrage handelt. Hier sind verschiedene Möglichkeiten denkbar.
Die Ambulantisierung vormals vollstationärer Leistungen voranzutreiben ist eine wichtige und auch gesundheitsökonomisch zu unterstützende Aufgabe. Es ist richtig, dass sich der Bundesgesundheitsminister nun endlich diesem Thema annimmt. Dabei geht es zum einen um das neue Setzen von zielgerichteten Anreizen, um die zunehmend knapper werdenden Beitragsmittel der GKV effizient und effektiv für die Patientenbehandlung einzusetzen. Die krankenhauspolitische Diskussion um Spezialisierung und Konzentration der Versorgungskapazitäten, flankiert von einer zielgerichteten Qualitätsmessung, darf auch im Kontext der Ambulantisierungs-strategie nicht konterkariert werden.
Zum anderen ist es aber auch wichtig, die Patient:innen und deren subjektive und objektive Bedarfe nicht zu vergessen. Diese gehen über die rein medizinisch-pflegerischen Aspekte hinaus. Ambulantes Entlassmanagement, Homecare und Case-Management erhalten eine neue, zentrale Bedeutung und müssen sinnvoll und strukturiert in Gesetzgebungsverfahren mit eingebracht werden. Auch der Auf- und Ausbau der ambulanten Versorgungsstruktur – in den Kliniken ebenso wie in der Nachsorge durch Recall-Systeme, Fahrdienste, Patientenhotels, digitale Infrastruktur etc. – muss bundeseinheitlich, aber natürlich in enger Rücksprache mit den Bundesländern, geklärt werden. Aufgrund der heterogenen Bedarfe und Anforderungen in urbanen und ländlichen Regionen gilt es, darauf ein besonderes Augenmerk zu richten. Zu guter Letzt darf aber auch ein ganz zentraler Punkt nicht vergessen werden: Ambulantisierung ist kein Selbstzweck, sondern versucht vor allem die immer knapper werdenden Personalressourcen so effizient wie möglich für die Patientenbehandlung einzusetzen, um Rationierung zu vermeiden.
Prof. Dr. Andreas Beivers ist Professor für Volkswirtschaftslehre und Gesundheitsökonomie an der Hochschule Fresenius in München sowie Leiter wissenschaftlicher Projekte bei der Stiftung Münch. Des Weiteren ist er assoziierter Wissenschaftler am RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung,
Mitglied im Advisory Board der Fakultät für Sport- und Gesundheitswissenschaften an der Technischen Universität München sowie Mit-Herausgeber des WIdO-Krankenhaus-Reports. Zuvor war er Bereichsleiter für stationäre Versorgung des IfG Institut für Gesundheitsökonomik.
Telefon: +49 89 66 55 09-0
Telefax: +49 89 66 55 09-55
Support: +49 89 66 55 09-45